Hintergründe

Der Rest ist Schwelgen

Die Angst vor der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist völlig berechtigt. Aber nicht, weil sie so schrecklich wäre.

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Die Angst vor der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist völlig berechtigt. Aber nicht, weil sie so schrecklich wäre, sondern weil sie eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Je mehr man aber in diese absolute Offenheit hineinhört, desto heftiger verwandelt sich Furcht in Lust.

Auf YouTube kursiert eines der komischsten Klassikvideos, das ich kenne: der Werbespot für ein „Best of“-Album mit 187 famosen Ohrwürmern der Zwölftonmusik. Natürlich ist dieses Album nur erfunden und der Clip, entstanden 1977, eine überdrehte Parodie, in der es nur so quietscht, fiepst und knallt, während die Hörer abwechselnd mit dem Stuhl umkippen, schreiend wegrennen, gegen Alleebäume fahren oder in der Dusche ermordet werden … Aber schauen Sie am besten selbst, wenn Sie mögen:

Ohne Zweifel ist die sogenannte Schönberg-Schule der Inbegriff der „modernen Musik“. Und natürlich ist es eine (höchst amüsante) Unverschämtheit, sie als einen einzigen Horrorfilm-Soundtrack vorzuführen. Aber es lässt sich kaum leugnen, dass das weite Feld der neuen Musik für viele Menschen mit Angst zu tun hat. Nicht umsonst nannte der Dirigent Ingo Metzmacher sein Moderne-Mutmacher-Büchlein: Keine Angst vor neuen Tönen. Und das lesbarste aller Bücher über die Musik des 20. Jahrhunderts nimmt auf den Schlusssatz von Hamlet Bezug, wo bekanntlich am Ende alle tot sind: The Rest is Noise (statt „silence“ bei Shakespeare) von dem New Yorker Kritiker Alex Ross.

 

Allerdings ist die Avantgarde à la Schönberg nur ein winziger Ausschnitt der vielen musikalischen Aufbrüche, die aus dem vielgeliebten romantischen 19. Jahrhundert in unsere Gegenwart führten. Ungefähr zu der Zeit, als der Schönberg-Schüler Anton Webern seine gefürchteten Vier Stücke op. 7 (fantastische Musik übrigens!) in die endgültige Fassung revidierte, wuppte ein gewisser Richard Strauss seine gigantische Alpensinfonie in die Konzertsäle: einen Überwältigungsschinken sondergleichen, den Rauschhörer bis heute heiß lieben, während streng fortschrittsorientierte Musikwissenschaftler mit Fluchtreflexen reagieren (ähnlich wie Otto Normalhörer auf Zwölftonhits).

Dieser Strauss empfahl schon früh, das Wort „modern“ lieber auf der ersten Silbe zu betonen. Er und der gegensätzliche Webern sind nur zwei von zahllosen Komponisten, deren Kunst zwischen 1900 und dem Kriegsausbruch 1914 in völlig verschiedene, aber allesamt neuartige Klangwelten explodierte. Sergej Rachmaninow erhob schwere Salonmelancholie und harmonischen Überfluss zum Lebenshabitus. Alexander Skrjabin, den mit diesem Kollegen innige Antipathie verband (einmal dirigierte er die Uraufführung eines Werks von Rachmaninow betrunken), drang in unglaublich originelle Klangwelten vor, die auf den Hörer wie ein Drogentrip wirken können – aber einer, gegen den kein Arzt etwas einwenden kann. Absolut unverkennbar und eigen tönen in dieser Zeit auch die Seelentiefe des schrulligen Mähren Leoš Janáček oder die raffiniert verfeinerten Maskenspiele des Polen Karol Szymanowski. Und der Finne Jean Sibelius, Alkoholiker wie Skrjabin, schuf am Nordrand Europas endlose musikalische Weiten. Der große Maurice Ravel aber ließ kurz nach dem Ersten Weltkrieg in La valse, einem der wahnsinnigsten und abgründigsten Musikstücke überhaupt, die untergegangene Welt des alten Europa nochmal derart sich im Kreis drehen, bis sie buchstäblich explodiert.

Danach ist alles möglich: unendlich viel mehr und vollkommen anderes, als der einschränkende Gedanke an den einen „Fortschritt“ ahnen lässt. Der Franzose Olivier Messiaen verband tiefen katholischen Glauben, manchmal auch gleißend schöne Kitschgefahr, mit beherzter musikalischer Experimentierfreude. Amerikaner wie George Gershwin oder später Leonard Bernstein ließen sich von Jazz- und Bluesidiomen aller Art inspirieren und schufen Klassik, bei der jeder Hörer unwillkürlich mitschwingt. Und die späteren sogenannten Minimalisten wie Steve Reich oder John Adams machten die Wonnen des tonalen Wohllauts zu ihrem Markenzeichen. Quasi die komplette Umdrehung der Zwölftonmethode. Anything goes, und das ist herrlich so.

Überhaupt wuchs die geografische Vielfalt übers „alte Europa“ weit hinaus – und erfüllte damit auf unerwartete Weise dessen musikalischen Traum, der sich in der Exotismus-Mode des 19. Jahrhunderts manifestiert hatte. Ist es nicht wunderbar, dass aus dieser Perspektive manchmal wir Europäer selbst zu bestaunten Exoten werden? Schon vor hundert Jahren schrieb die Amerikanerin Amy Beach (eine der fantastischen Komponistinnen, die viele von uns gerade erst zu hören beginnen) Variationen über Themen vom Balkan. Und pünktlich zur Jahrtausendwende, 85 Jahre nach StraussAlpensinfonie, schuf der legendäre Philip Glass ein Tirol Concerto.

 

Dass man prononciert „zeitgenössische“ Musik auch hören kann, ohne vorab drölfzig Semester Dodekafonismus studiert zu haben, beweisen Musikrichtungen wie der ungeheuer sinnliche Spektralismus etwa eines Tristan Murail (Sie werden von diesen schillernden Klängen beglückt sein, ohne das Wort „Spektralismus“ verstehen zu müssen). Und nicht zuletzt ist das Schöne an der Musik des 21. Jahrhunderts: Man lernt, dass es zu einem „Komponisten“ nicht zwangsläufig gehört, schon lange tot zu sein. Ob es die 1982 geborene Amerikanerin Caroline Shaw ist, eine Musikantin durch und durch, oder der litauische Akkordeon-Paganini Martynas Levickis: Es gibt nicht nur auf dem Friedhof der Musikgeschichte viel zu entdecken. Denn in dieser Geschichte sind, anders als im Hamlet, am Ende eben nicht alle tot, sondern lebendiger denn je. Die Musik unserer Gegenwart ist nicht zum Davonrennen, sondern zum Hinlaufen und Hinhören. Der Rest ist Schwelgen.